Sie waren seit 2007 beim DWA tätig. Was hat Sie damals daran gereizt, sich auf die Stelle bei der Diakonie zu bewerben?
Ilona Luttmann (IL): Beworben habe ich mich 2007 auf die Stelle Abteilungsleiter*in Sozialpsychiatrie mit der Aussicht, die Stelle des 2. Vorstandes mit zu übernehmen. Gereizt hat mich vor allem die komplexere fachliche Arbeit. Hinter Sucht verstecken sich nicht selten vielfältige psychische und soziale Probleme. Sich mit diesen unterschiedlichen Krankheitsbildern und Problemfällen auseinanderzusetzen und die unterschiedlichsten Hilfemaßnahmen vor Ort, im Sozialraum ambulant für die Menschen zu gestalten und (weiter) zu entwickeln, das war für mich der Motor des Wechsels. Dass dann die Zuständigkeit auch für die Jugendhilfe und Altenhilfe hinzukam und ich zum Fachvorstand wurde, lag an der Entwicklung, die auch das Werk genommen hat.
Als Fachvorständin waren Sie – zusammen mit dem Theologischen und dem Kaufmännischen Vorstand – Teil eines Teams. Was haben Sie an der Zusammenarbeit mit Ihren beiden Kollegen geschätzt? Und was war schwierig?
IL: Das Diakonische Werk hat sich zur Aufgabe gemacht, auf der Basis des christlichen Glaubens Menschen mit den unterschiedlichsten Problemlagen zu helfen. Der christliche Ansatz ist die Grundlage, braucht aber in der Entwicklung von Angeboten fachliche Professionalität. Genauso müssen wir als Diakonie darauf achten, dass Wirtschaftlichkeit gegeben ist, sonst können wir die Angebote nicht lange aufrechterhalten. Dazu bedarf es natürlich immer wieder der Auseinandersetzung an diesen drei Eckpunkten. Aber Auseinandersetzung ist Entwicklung. Deshalb habe ich diese sehr geschätzt, auch wenn es natürlich immer mal wieder schwierig wurde.
Als Vorstandsmitglied mussten Sie – mit Blick auf das Wohl des gesamten Werkes - manch unpopuläre Entscheidung treffen und vertreten, z.B. gegenüber Mitarbeiter*innen, Klient*innen oder deren Angehörigen. In welchem Fall ist Ihnen das besonders schwer gefallen?
IL: Eine Entscheidung fällt mir ein, die deshalb besonders schwierig zu kommunizieren war, weil sowohl Mitarbeiter*innen, Bewohner*innen, Angehörige, die Menschen im Betreuten Wohnen der Anlage, aber auch ein ganzer Stadtteil betroffen waren. Dies war die Schließung der Pflegeeinrichtung der Hermann-Sohnle-Siedlung in Hochzoll 2013. Uns blieb damals keine Wahl, denn die Einrichtung war mit weniger als 50 Betten schon schwer refinanzierbar. Aber sie hat auch in keiner Weise den Vorgaben des damals eingeführten Wohn-Pflege-Qualitätsgesetzes entsprochen. Angehörige mussten neue Plätze finden. Wir haben zwar dabei geholfen – und tatsächlich ging alles schneller als von uns erwartet – aber es war für die Familien ein belastender Einschnitt in ihr Leben. Wir haben die Erwartung der Menschen im Betreuten Wohnen enttäuscht, bei Pflegebedürftigkeit in der Siedlung bleiben zu können und nur von der Wohnung in das Heim wechseln zu müssen. Wir haben dem Stadtteil die stationäre Pflege genommen, und es kam zu einem Aufschrei. Wir haben den Mitarbeiter*innen zwar einen alternativen Arbeitsplatz in der Pflege anbieten können, aber wir haben ihnen den angestammten Arbeitsplatz genommen. Es war emotional schwierig, aber die Qualität nicht mehr anbieten zu können, war der Hintergrund und damit auch eine emotionale Entlastung. Außerdem denke ich, dass letztendlich mit dem Inklusionsprojekt Wohnen im Alter und Wiedereingliederung für psychisch kranke Menschen etwas sehr positives Neues entstanden ist.
Sie waren fast 15 Jahre beim Diakonischen Werk Augsburg tätig. Was unterscheidet die Diakonie 2007 von der Diakonie heute?
IL: Ich denke, im Diakonischen Werk hat sich mehr und mehr das notwendige Bewusstsein entwickelt, dass wir uns auf einem Sozialmarkt behaupten müssen. Auch wenn wir mit den anderen Wohlfahrtsverbänden wirklich gut zusammenarbeiten und einen guten Kontakt zu Kommunen und anderen Kostenträgern haben – wir müssen bei unseren Angeboten darauf achten, dass sie auch entsprechend angenommen werden und wir sie entsprechend refinanziert bekommen. Es ist nicht immer möglich, alles zu machen, was wünschenswert wäre. Dieses Verständnis war schwierig zu erreichen und hat sich doch entwickelt.
Und wir sind größer geworden. So haben wir uns z.B. in der Altenpflege auch spezialisieren können, sei es in stationären Angeboten für dementiell Erkrankte oder im palliativen Bereich. Wir haben neue Angebote geschaffen, z.B. eine neue Tagesstätte für psychische Gesundheit in Meitingen, die Ergänzende Unabhängige Teilhabeberatung (EUTB), das Familienbüro in Bobingen, der Ausbau der teilstationären Hilfen, um nur Einiges zu nennen.
Vieles ist auch neu entstanden, weil die gesetzlichen Rahmenbedingungen sich geändert haben: Wir mussten Baumaßnahmen in den Heimen vornehmen, die natürlich auch zu Verbesserungen geführt haben. Der Krisendienst, der mobile Dienste vorsieht, die in Notfällen bei psychisch kranken Menschen zum Einsatz kommen, ist auf der Grundlage des Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetzes von den Sozialpsychiatrischen Diensten in Kooperation mit dem Bezirk Schwaben entwickelt worden.
„Stark für Menschlichkeit“ ist seit einigen Jahren das Leitwort des DWA. Wo erleben Sie im DWA konkret Menschlichkeit?
IL: Überall arbeiten wir mit und für Menschen. Wir schaffen Angebote für Menschen, die die unterschiedlichsten Bedarfe haben. Die Menschen anzunehmen, wie sie sind, die Menschen zu mögen, auch wenn sie in der Gesellschaft vielleicht nicht mehr anerkannt sind. Gleichzeitig auch professionell Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten, auch wenn das für einen selbst durchaus unbequem sein kann, weil der Bedürftige das erst einmal als anstrengend erlebt. Trotzdem aber an seiner Seite zu bleiben. Das alles halte ich für sehr menschlich. Aber auch der kooperative Führungsstil, der immer wieder das Gespräch mit dem Mitarbeiter sucht, ist menschlich. Das hat nichts damit zu tun, dass auch Strukturen eingehalten werden müssen.
Rückblickend auf Ihre Zeit bei der Diakonie haben Sie gesagt: „Jeder Neuanfang – und war er noch so schwierig – hat auch eine Entwicklung bedeutet, hat in ganz bestimmter und positiver Weise meinen Lebensweg beeinflusst.“ Können Sie das konkretisieren?
IL: Als ich gekommen bin, bin ich von vielen Seiten stark angegriffen worden, weil ich scheinbar zu starke Veränderungen vornehmen wollte – vermeintlich ganz gegen das Gebot der Menschlichkeit. Ich habe das damals zunächst einmal überhaupt nicht verstanden, weil ich nach meinem Erleben eine fachliche Entwicklung einleiten wollte. Ich glaube, das konnte ich damals nicht verständlich machen. Im Rückblick haben die Veränderungen stattgefunden. Das ließ sich schon auf Grund der gesetzlichen Vorgaben gar nicht vermeiden. Aber ich habe für mich erkannt, dass die Vermittlung von notwendigen Veränderungen schwierig ist. Es muss immer wieder überprüft werden, ob die Botschaft auch angekommen ist, und man muss dabei mit einbeziehen, dass es auch noch einen Prozess gibt, der den Weg vom Festhalten an dem Alten und Gewohnten bis hin zum Neuen und Notwendigen beschreibt. Das habe ich gelernt.
Ein weiteres Zitat: „Das Alte versöhnt loslassen – in diesem Prozess befinde ich mich.“ Gibt es Entwicklungen im Werk, die Sie gern in eine andere Richtung gelenkt hätten? Projekte, die Sie nicht mehr abschließen konnten? Entscheidungen, die Sie rückblickend anders treffen würden?
IL: Sicher habe ich Fehler gemacht, das liegt in der menschlichen Natur; sicher habe ich auch Entwicklung gefördert. Das war immer mein Ziel. Mit den Fehlern muss man sich versöhnen, die Entwicklung wird mit anderen Personen weitergehen.
Die Fragen stellte Diana Riske, Öffentlichkeitsreferentin beim DWA.